Marijana Erstic, Slavija Kabic, Britta Künkel (Hrsg):

Opfer - Beute - Boten der Humanisierung?

Zur künstlerischen Rezeption der Überlebensstrategien von Frauen im Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg[1]

Hintergrund: Am 22. und 23. Juli 2010 fand an der Universität Siegen ein Workshop statt mit dem Titel "Frauen im Krieg - Opfer, Beute, Überläuferinnen oder Boten der Humanisierung? Muster im Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg", unterstützt vom Gleichstellungsbüro und dem Zentrum für Gender Studies der Universität Siegen.

Der Bosnienkrieg (1992-1995), der im Mittelpunkt der Tagung stand, gilt als ein Krieg, bei dem die Vergewaltigungen von Frauen als eine politische Strategie eingesetzt wurden. Damit gehört dieser Krieg in die Reihe der kriegerischen Auseinandersetzungen, bei denen die körperliche und seelische Erniedrigung und die Gewalt an Frauen systematisch betrieben wurden.

Nach dem Krieg entstanden, namentlich aus der Feder- und Kameraführung von literarischen sowie von Film-Autorinnen und -Autoren, verschiedene Werke, die sich mit eben dieser Thematik beschäftigten. Im Zentrum des Workshops stand deshalb die Auseinandersetzung mit dem Tatbestand der systematischen Vergewaltigungen und ihrer Folgen in den literarischen Werken und in den Spielfilmen.

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Mit der Besprechung und Analyse einzelner Werke hat dieser Workshop einen Beitrag zu der Erforschung der Auseinandersetzung mit den Jugoslawienkriegen geleistet. Ergänzend wurden die film- und literaturwissenschaftlichen Referate mit den Referaten über den Jugoslawischen Nachfolgekrieg, über die Rolle der Medien in dem selben Krieg sowie über die Rolle der Frauen in Deutschland kurz nach dem Zweiten Weltkrieg abgehalten.[2]


INHALT

  1. Vergewaltigung als Kommunikation zwischen Männern. Kontexte und Auseinandersetzung in Publizistik und Literatur, Elisabeth von Erdmann | 13

  2. Glück“ (2009) – Eine Skizze zu Ferdinand von Schirachs Kurzgeschichte miteinem Blick auf den gleichnamigen Spielfilm von Doris Dörrie (2011), Marijana Erstić | 39

  3. Den Krieg bezeugen:STURM (2009), Uta Fenske | 49

  4. Wie stereotyp darf ein Kriegsfilm sein?Max Färberböcks ANONYMA – EINE FRAU IN BERLIN (2008),Walburga Hülk/Gregor Schuhen | 65

  5. Namenlos, gesichtslos, austauschbar‘:Menschlichkeit und Bestialität im Roman Als gäbe es mich nicht von Slavenka Drakulić,Slavija Kabić | 87

  6. Aktivierung des Weißraums.Zur Typographie des Schweigens in E 71. Mitschrift aus Bihać und Krajina,Hermann Korte | 115

  7. BERLIN `36.Erfahrungen einer jüdischen Sportlerin in der NS-Zeit und diefilmische Umsetzung.Britta Künkel | 127

  8. Die post-jugoslawischen Kriege in den Massenmedien. Eine kommunikationstheoretische Betrachtung mit besondererBerücksichtigung der Massenvergewaltigung,Dunja Melčić | 139

  1. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meines Körpers“.Zur filmischen Inszenierung von Schmerz in ESMAS GEHEIMNIS, Tanja Schwan | 155

  2. Der Krieg in Bosnien-Herzegowina.Mehr als Konkurrenz der ErinnerungenLudwig Steindorff | 179

  3. Die Antigone von Katyń.Die Frauenporträts in Andrzej Wajdas Film DAS MASSAKER VON KATYŃ,Natasza Stelmaszyk | 213

Konkurrierende Gedächtnisse in der Fiktion

Jedes Gedächtnis schließt eine eigene Geschichte ein, was eigene Erinnerungen, Deutungsvorstellungen und Erkenntnisweisen der nationalen, kollektiven Geschichte impliziert. Die Vergangenheit wird nicht nur wahrgenommen, sondern auch verstandes- und gefühlsmäßig verarbeitet.

Erinnern ist eine Funktion der Selektion in Gedächtnis und Geschichte. Kulturelles Gedächtnis ist ein von Jan und Aleida Assmann geprägter Begriff. Er bezeichnet

„...die Tradition in uns, die über Generationen in jahrhunderte-, ja teilweise jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewusstsein, unser Selbst- und Weltbild prägen. …“[3]

In der seit Jahrzehnten hitzig geführten Debatte um das Geschichtsbild des Balkans lassen sich exemplarisch die Spannungen zwischen Geschichte als objektivierter Historiografie und Geschichte im Sinne eines identitätsstiftenden Gedächtnisses beobachten. Die nicht nur bei Südslawen geführte Patriotismus-Debatte stellt sich als ein Versuch der Konservativen dar, die nationale Vergangenheit für die Durchsetzung von politischen Zielen zu instrumentalisieren, indem Geschichte durch Gedächtnis ersetzt werden soll.[4]

Eine aktuelle Ausprägung dieser Debatte ist im jüngsten Wiederaufflammen des Streites um die völkerrechtlichen Folgen des Krieges festzustellen. Im Spannungsfeld zwischen Geschichte und Gedächtnis stellt sich die Frage, ob sich ein nationales Gedächtnis herausbilden kann, wenn das kollektive Gedächtnis eines Teils der Bevölkerung demjenigen widerspricht, das ein anderer Teil der Gesellschaft als allgemein gültig postuliert und mit Hilfe der Regierung als nationales Gedächtnis von oben zu oktroyieren versucht.[5]

Die Suche nach historischer Wirklichkeit, also nach historischer Erkenntnis (´wie es wirklich war`) ist zentral für den Geschichtswissenschaftler, dagegen stellt sich die Frage, in wie weit historisches Erkennen losgelöst von individueller Erinnerung möglich ist, und so der untersuchte Gegenstand oder das untersuchte Ereignis überhaupt historische Wirklichkeit widerspiegeln kann.

Mit diesem Dilemma im Hintergrund betrachten wir die Fiktion. Fiktion (lat. fictio, „Gestaltung“, „Personifikation“, „Erdichtung“ von fingere „gestalten“, „formen“, „sich ausdenken“) bezeichnet die Schaffung einer eigenen Welt durch Literatur, Film, Malerei oder anderen Formen der Darstellung sowie den Umgang mit einer solchen Welt. Bei der Fiktion handelt es sich um eine bedeutende Kulturtechnik, die in weiten Teilen der Kunst zum Einsatz kommt.

Zur Erklärung von Fiktion werden in der Literatur- und Kunsttheorie unter anderem fehlender Wahrheitsanspruch und mangelnde Übereinstimmung mit der Realität herangezogen. [6]


Erzählte Geschichte ist keine Gedächtniswiedergabe

Geschichte und Gedächtnis stellen zwei vergleichbare - und miteinander konkurrierende - Versuche dar, eine Brücke zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu schaffen. Es sind zwei nicht verwechselbare Einstellungen zur Vergangenheit: Während Geschichte den Anspruch auf Überprüfbarkeit und objektive Gültigkeit erhebt, ohne Teilnahme und Emotion, bzw. während die historischen Fragen nicht von Gegenwartsinteressen geleitet werden sollen, dient die Fiktion existenziellen Bedürfnissen von Individuen und Gemeinschaften.

Bereits Friedrich Nietzsche suggeriert uns eine Antwort auf die Frage, wer wir sind und wonach wir uns richten sollen:

"Erst durch die Kraft, das Vergangene zum Leben zu gebrauchen und aus dem Geschehen wieder Geschichte zu machen, wird der Mensch zum Menschen." [7]

So verstandenes Festhalten (Fiktion) an dem Gedächtnis dient also vor allem auch der Frage nach der eigenen Identität.

"Erinnerung hilft, die Gegenwart wahrzunehmen, gibt ihr Sinn und ordnet sie zwischen Vergangenheit und Zukunft ein; als solche produziert sie Identität. Nur durch sie kann die Wirklichkeit Gestalt annehmen."[8]

Wie können wir also Fiktion betreiben und über historische Gegenstände Debatten führen?

Der erste Ansatz einer möglichen Lösung dieses Problems ist durch die Analyse des Problems gegeben: Werden Missstände aufgedeckt und im Bewusstsein verankert, kann ein Diskurs stattfinden.

"Nur eine Kritik des Gedächtnisses bewahrt die historische Erkenntnis vor dogmatischen Schlüssen."[9]

Durch gemeinsame Geschichtsbilder, Wertvorstellungen und einem gemeinsamem historischem Selbstverständnis eignen sich unter anderem Gruppen, Nationen oder einzelne Personen die Vergangenheit in einer bestimmter Weise, mit einer bestimmten Deutung und eventuell zu einem bestimmten Zweck, an. Die Gegenwart wird durch die Gruppe über ein gemeinsames Verständnis der Vergangenheit interpretiert. Die unbefriedigte Bedürfnisse die zur Identifikation geführt haben, können zu einer Spaltung der Gruppe und bis zu psychischen Störungen Einzelner führen (´Identitätskrise` à Siegmund Freud)[10].

Eine Aufschlüsselung der Dilemma zum Herstellung des Friedens erläuterte Alexander Mitscherlich in seine Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels am 12. Oktober 1969 in der Frankfurter Pauluskirche:

Die Fähigkeit, in Lebenslagen von sehr unterschiedlichem Gewicht sich aggressiv zu verhalten, geht auf eine aggressive Grundbegabung der Gattung Mensch zurück. Die Zielvorstellung aller Kultur, sobald das nackte physische Elend überwunden ist, besteht demnach in der Milderung der feindseligen und zerstörerischen Formen von Aggression durch die Förderung ausgleichender seelischer Kräfte wie Mitgefühl, Verständnis für die Motive des anderen…[11]

Ivica Košak



[1] , Slavija Kabic, Marijana Erstic (Hrsg):Opfer - Beute - Boten der Humanisierung? Zur künstlerischen Rezeption der Überlebensstrategien von Frauen im Bosnienkrieg und im Zweiten Weltkrieg. Transcript 2012.

[2] Quelle: http://www.uni-siegen.de/start/news/oeffentlichkeit/314865.html

[3] Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. In: Thomas Mann und Ägypten. C. H. Beck, München 2006, S. 70.

[4] Cf. Thomas Güde: Erinnern an Okinawa: Konstruktion von nationalem Gedächtnis in einer Gesellschaft konkurrierender kollektiver Gedächtnisse. Grinverlag 2011.

[5] Aleida Assmann, Jan Assmann: Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Klaus Merten, Siegfried J. Schmidt, Siegfried Weischenberger (Hrsg.): Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in Kommunikationswissenschaften. Opladen 1994.

[6] http://de.wikipedia.org/wiki/Fiktion

[7] Nietzsche, Friedrich, Vom Nutzen und Nachteil der Historie, in: Unzeitgemässe Betrachtungen, Goldmann: 1999.

[8] Francois, Etiènne, Deutsche Erinnerungsorte, München 2001.

[9] Ricoeur, Paul, Das Rätsel der Vergangenheit, in: Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge 2, Göttingen 2000.

[10] Sigmund Freud: Die Verdrängung. In: Das Unbewußte. Schriften zur Psychoanalyse. S. Fischer Verlag 1963, Seite 69, zuerst erschienen in: Zeitschrift f. Psychoanalyse 1915, Bd. III; Gesammelte Werke, S. Fischer, Bd. X

[11] Alexander Mitscherlich: Über Feindseligkeit und hergestellte Dummheit. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1993.