Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt




Die Identitätsfalle, 

Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, C. H. Beck Verlag, München 2007

Amartya Sen[1] Kritik an Samuel Huntigons populärer These vom Kampf der Kulturen ist m. E. berechtigt und überzeugend, schließlich sind die Gefahren, die von entsprechenden simplifizierenden Klassifikationen ausgehen, nicht zu unterschätzen.

 Gibt es einen „Krieg der Kulturen“ zwischen dem Westen und dem Islam? Die einen sagen, wir sind bereits mitten in diesem Krieg, die anderen hoffen, den Konflikt durch einen Dialog der Kulturen entschärfen zu können. Amartya Sen zeigt in seinem Buch, dass die falsche Illusion einer einzigen Identität diesen „Krieg der Kulturen“ konstruiert und zugleich fatal vorantreibt.

Während die Welt zunehmend aufgeteilt wird in Blöcke aus Religionen, Kulturen oder Zivilisationen, geraten uns andere Faktoren des menschlichen Daseins wie Klasse, Geschlecht, Bildung, Beruf, Sprache, Kunst, Wissenschaft, Moral oder Politik immer mehr aus dem Blick.

 Globale Bemühungen, der eskalierenden Gewalt Einhalt zu gebieten, scheitern zudem an einer Konzeptlosigkeit, die das direkte Resultat dieser undifferenzierten und eindimensionalen Konstruktion von Identität ist. Wenn die Beziehungen zwischen menschlichen Individuen auf einen „Krieg der Kulturen“ reduziert werden, dann schnappt die „Identitätsfalle“ zu.

 Amartya Sen unterstreicht vor allem dessen Warnung, die Identitäten von Individuen und Kollektiven über die Zugehörigkeit zu einer einzigen Kultur zu bestimmen, arbeitet eine solche Zuschreibung doch mit einem falschen, weil reduktionistischen Konzept von Identität.

Dem gegenüber macht Sen seines Erachtens zu Recht die Vielzahl an Zugehörigkeiten von Individuen geltend und zeigt auf, wie falsch sind im Kern alle Versuche, die Weltbevölkerung in eine Handvoll von Kulturen einzuteilen.

 Menschen, die eine Fülle von Identitätsmerkmalen haben, werden auf ein einziges reduziert und verschwinden in kleinen übersichtlichen Schubladen. Das Geschäft der Fundamentalisten besteht in dieser Miniaturisierung menschlicher Existenz, mit der alle Ideologie der Gewalt ihren Anfang nimmt.

 Amartya Sen zeigt nicht nur, wie die Spirale aus Identität und Gewalt entsteht, sondern auch, wie sie durchbrochen werden kann.

Denn niemand ist zu einer einzigen Identität verdammt, jeder kann seine Persönlichkeit gestalten und mitbestimmen. Sens brillante Analyse von Multikulturalismus, Postkolonialismus, Fundamentalismus, Terrorismus und Globalisierung macht vor allem eines klar:

 - Die Welt kann sich ebenso in Richtung Frieden bewegen, wie sie jetzt auf Gewalt und Krieg hinzusteuern scheint.

 Denn selbst wenn Amartya Sen mit seiner Feststellung, dass sich kein Mensch auf seine kulturelle oder religiöse Herkunft reduzieren lässt, dem postmodernen Leser Focaults[2] oder Derridas[3] nichts Neues sagt, seien Sens Forderungen doch wichtig in einer Zeit, in der internationale Konfliktlinien in Medien und Öffentlichkeit zum Großteil entlang kultureller und religiöser Linien gezogen werden.

Kern der Thesen Amartya Sens ist ein deutlich weiter gefasstes Konzept von kultureller Identität, als das Samuel Huntingtons oder der Multikulti-Ideologen. Überzeugen kann Sen auch mit seinen Analysen aktueller Konflikte und Kriege und besonders mit einer "Dialektik des kolonialisierten Geistes" beeindrucken, mit der Sen bei den früheren Kolonialisierten heute eine "parasitäre Besessenheit von den Exkolonialherren" diagnostiziert.

 

Ivica Košak



[1] Amartya Kumar Sen * 3. November 1933 in Shantiniketan, Westbengalen) ist ein indischer Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftsphilosoph.

Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Problematik der Armut und die Wohlfahrtsökonomie. Er ist Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University in Cambridge (Massachusetts).

1998 erhielt Sen den Preis für Wirtschaftswissenschaften der schwedischen Reichsbank im Gedenken an Alfred Nobel für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie, zur Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung und zum Lebensstandard.

Bahnbrechend waren außerdem seine Beiträge zur Interdependenz von ökonomischer Freiheit, sozialer Chancen und Sicherheit und politischer Freiheit (Demokratie), dem Zusammenhang zur Armutsbekämpfung und zur Theorie der kollektiven Entscheidungen. Er gilt als einer der schärfsten Kritiker der Public Choice Theory.

Auf Sens Vorschläge geht die Einrichtung des Human Development Index zurück, den das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen seit 1990 regelmäßig aktualisiert herausgibt. Die Wohlfahrtsfunktion ist ein weiterer Vorschlag Sens.

 [2] Lehrbuch: Foucaults Machtanalytik und Soziale Arbeit: Eine kritische Einführung und Bestandsaufnahme (Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit). Ziel des Lehrbuchs ist es, das aufklärerische Potential der Machtanalytik Michel Foucaults für eine kritische Theorie und Praxis Sozialer Arbeit zu erschließen und erstmals in einen Zusammenhang mit den aktuellen Diskussionen zur sozialen Ausschließung zu stellen

[3] So versucht Derrida in Gesetzeskraft; Der mystische Grund der Autorität, die zerfaserten Grenzen und die prinzipielle Ungesichertheit von Werten, Normen und Vorschriften deutlich zu machen. Ähnlich wie in seiner „Subjektkritik“ geht es ihm auch hier nicht um eine Negierung oder „Verabschiedung“ derartig anspruchsvoller Begriffe, sondern um eine Relationierung von allgemeinen Urteilen auf deren Konstitutionsbedingungen und die Faktoren der Etablierung. Derrida kritisiert dabei soziale Institutionen und theoretische Optionen, die der vorbenannten Option für die Uneinholbarkeit der Singularität „des Anderen“ unzureichend Rechnung tragen. Derrida hält jedoch zugleich bewusst an Begriffen wie „Gerechtigkeit“ und deren Geltungsanspruch fest, betont aber, dass deren Wahrung stets an kontingente und historische Faktoren gebunden ist, für die ebenfalls Verantwortung zu tragen ist. Derrida entwickelt seine Entscheidungstheorie ausgehend von der Option für „den Anderen“. Jede Entscheidung sei eine passive Entscheidung des Anderen in mir. Ebenso kennzeichnet er die Praxis der Dekonstruktion als die Ermöglichung einer Beziehung oder eines Empfangs des Anderen.



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