IDSTEINER MITTWOCHSGESELSCHAFT
BUCHBESPRECHUNG MIT DISKUSSION
Mittwoch, den 25. September 2013
im Hotellobby des Hotels zur Traube & China Restaurant Golden Lotus,
Rodergasse 27 - 65510 Idstein/Ts.
um 19:00 Uhr
IN ERINNERUNG AN
DEN KULTURKRITIKER
IVAN ILIĆ (Ivan Illich)
Die "Nemesis der
Medizin" war bei ihrem ersten Erscheinen im Jahr 1975, damals unter
dem Titel "Die Enteignung der Gesundheit", Schock und Provokation
zugleich. Dabei hatte Ivan Ilić nichts anderes getan, als einer
ausufernden und krebsartig wuchernden Gesundheits- und Medizintechnokratie den
Spiegel vorzuhalten. Detailreich und mit kritischer Brillanz wird gerade auch
dem medizinischen Laien gezeigt, wie die verschiedenen Interessen-gruppen, wie
Ärzteschaft, Pharmaindustrie und die sie begleitende Ideologie den Patienten
zum süchtigen Verbraucher und die Medizin zum Verbrauchsgut werden
lassen.
Entfremdet von der
natürlichen Erfahrung von Gesundheit, Krankheit und Tod, deren Definition wir
lieber den Ritualen der Ärzteschaft vorbehalten, sind wir so dem Irrglauben
verfallen, der Mensch sei vollständig reparabel.
Ein Buch, das auch Heute von
beklemmender Aktualität ist.
REFERENT: Ivica Košak

Ausländerbeirat der Stadt Idstein - IDSTEINER MITTWOCHSGESELLSCHAFT
Kroatische Kulturgemeinschaft e.V.
Tischvorlage;
Ivan Illich
Die Nemesis der Medizin
Die Kritik der Medizinalisierung des Lebens
Die neuen Spezialisten, die nichts anderes tun, als solche
menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, die ihre Zunft erst erfunden und
definiert hat, kommen gern im Namen der Liebe daher und bieten irgendeine
Form der Fürsorge an.
Aus dem Buch:
Wollte man der Arzneimittel-Industrie die Schuld an der
Medikamentensucht anlasten, so wäre dies ebenso unsinnig, als wollte man die
Mafia für den illegalen Drogenkonsum verantwortlich machen. Die heutige
Erscheinung des Überkonsums von Drogen - seien es wirksame Heilmittel oder
Anodyna, verschreibungspflichtige Artikel oder Bestandteil der täglichen
Ernährung, kostenlos verteilt, käuflich erworben oder gestohlen - ist nur als
Folge einer Gesinnung zu erklären, die sich bisher in jeder Kultur entwickelt
hat, wo der Markt für Konsumgüter einen bedrohlichen Umfang erreicht hat. Diese
Erscheinung wird bestimmt durch die Ideologie jeder an grenzenloser
Bereicherung orientierter Gesellschaft - ganz gleich ob deren Industrieprodukte
nach eigenmächtiger Maßgabe von Planern oder durch die Kräfte des Marktes
verteilt werden. In einer solchen Gesellschaft sind die Menschen davon
überzeugt, daß im Bereich der Gesundheitspflege wie auch auf allen anderen Gebieten
menschlichen Strebens die Technik dazu dienen könne, die Lebensbedingungen des
Menschen in beinah jeder Richtung zu verändern. (S. 53)
Ich behaupte nun, daß der Laie, und nicht der Arzt,
potentiell den Überblick und tatsächlich die Macht besitzt, der heutigen iatrogenen
Epidemie ein Ende zu setzen. (S. 10)
Ein professionelles, auf die Person des Arztes abgestelltes
Gesundheitssystem, das sich über gewisse Grenzen hinaus entwickelt hat, macht
aus drei Gründen die Menschen krank: es produziert zwangsläufig klinische
Schäden, die schwerwiegender sind als sein potentieller Nutzen; es kann die
politischen Verhältnisse, die die Gesellschaft krank machen, nur begünstigen -
auch wenn es sie zu verschleiern sucht; und es nimmt dem Einzelnen die
Fähigkeit, selbst zu gesunden und seine Umwelt zu gestalten. Die heutigen
Medizinsysteme haben die Grenzen dessen, was erträglich ist, bereits
überschritten. (S. 15)
Die Medizin ist ein moralisches Unternehmen und bestimmt
daher zwangsläufig den Inhalt der Worte "gut" und "schlecht".
In jeder Gesellschaft definiert die Medizin, genau wie Gesetz und Religion, was
normal, angemessen oder wünschenswert ist. Die Medizin besitzt die Autorität,
die Beschwerden des einen als legitime Krankheit zu etikettieren, den zweiten
für krank zu erklären, obwohl er gar nicht über Beschwerden klagt, und dem
dritten die soziale Anerkennung seines Leidens, seiner Schwäche und sogar
seines Todes zu verweigern. (S. 35)
Diese Spielregeln verbieten natürlich, daß jemand aus dem
Spiel ausscheidet und auf eigene Faust stirbt, ohne sich um den Schiedsrichter
zu kümmern. Der Tod ist nur noch als sich selbst erfüllende Prophezeiung
des Medizinmannes zulässig. Durch die Medikalisierung des Todes hat sich
das Gesundheitswesen zu einer monolithischen Weltreligion entwickelt, deren
Dogmen in Pflichtschulen gelehrt werden und deren ethische Regeln zur
bürokratischen Restrukturierung der Gesellschaft eingesetzt werden: Sexualität
ist mittlerweile Unterrichtsfach, und die gemeinsame Benützung eines Löffels
ist aus hygienischen Gründen verpönt. (S. 148)
Ehedem war derjenige am besten gegen den Tod geschützt, den die Gesellschaft
zum Tode verurteilt hatte. Die Gesellschaft fühlte sich bedroht, wenn der Mann
in der Todeszelle seinen Gürtel nahm und sich erhängte. Die staatliche
Autorität fühlte sich bedroht, wenn er sich vor der festgesetzten Stunde das
Leben nahm. Heute ist es der Kranke im kritischen Stadium, der am besten
dagegen geschützt ist, selbst die Umstände seines Sterbens zu
bestimmen. Die Gesellschaft, vertreten durch das Medizin-System,
entscheidet, wenn und nach welchen Demütigungen und Verstümmelungen er sterben
darf. Die Medikalisierung der Gesellschaft hat hat die Epoche des
natürlichen Todes ihrem Ende zugeführt. Der westliche Mensch hat das Recht verloren,
beim letzten Akt selbst Regie zu führen. Gesundheit, die autonome Kraft der
Lebensbewältigung, ist bis zum letzten Atemzug enteignet. Der mechanisierte Tod
hat alle anderen Todesarten besiegt und vernichtet. (S. 149)
Die Iatrogenesis ist nur einzudämmen, wenn sie als ein
Aspekt unter anderen der destruktiven Herrschaft der Industrie über die
Gesellschaft, als nur ein Beispiel jener paradoxen Kontraproduktivität
begriffen wird, die heute in allen wichtigen Bereichen des Lebens in
Erscheinung tritt. Wie die zeitraubende Beschleunigung des Verkehrs, die
verblödende Erziehung an den Schulen, die selbstzerstörerische militärische
Verteidigung, die irreführenden Informationen der Medien oder der Menschen
entwurzelnde Wohnungsbau, so ist auch die pathogene Medizin eine Folge der
industriellen Überproduktion, die das autonome Handeln lähmt. (S. 150)